Verstehen im Coaching

von Rainer Molzahn


Verstehen im Coaching

 

Welche Rolle spielt es in der Begleitung von Veränderungsprozessen, zu verstehen?

 

Welche Rolle spielt es für die Bewältigung und Gestaltung von Veränderungsprozessen, verstanden zu werden?

 

Und was meinen wir überhaupt, wenn wir das Wort benutzen?


Wie wir "Verstehen" verstehen

Was genau meinen wir, wenn wir sagen „das versteh ich“? Und was, wenn wir sagen „das versteh ich nicht“?

 

Im engeren Sinne sind es zwei Dinge:

  • Wenn wir den Ausdruck im sprachlichen Tagesgeschäft benutzen, dann meinen wir damit meistens, dass wir etwas nachvollziehen können, dass wir es uns vorstellen können oder nachfühlen, dass wir anstelle der anderen Person möglicherweise ähnliche Interpretationen, Gefühle oder Impulse hätten, dass es uns nicht vollkommen fremd ist. Wenn wir unser Verständnis ausdrücken, signalisieren wir dem anderen, dass wir einen gemeinsamen Bedeutungshintergrund haben, dass wir eine Welt teilen – und auch, dass deswegen wahrscheinlich weder die andere Person noch wir selbst vollkommen spinnen. Dass etwas von ihm oder ihr auch in uns ist, und etwas von uns auch in ihr oder ihm. 

  • Die andere Bedeutung von „das verstehe ich“, interessanterweise meist im Perfekt benutzt, ist natürlich: ich weiß wie es funktioniert. Ich weiß, weil ich es einmal verstanden hab, welche zugrunde liegenden Wirkfaktoren dass sinnfällige Ergebnis hervorbringen, warum es also so ist wie es ist. Diese Art von Verstehen geht mit dem Selbstvertrauen und der Zuversicht einher, unter ähnlichen Ausgangsbedingungen ähnliche Resultate hervorbringen zu können. Sie ist die Grundlage und das Versprechen jeglichen Handwerks, ob nun Heizungsmonteur, Präsident oder Coach.

 

Beide Arten, beide Bedeutungen von ‚Verstehen‘ sind keineswegs identisch, auch wenn wir dasselbe Wort für sie benutzen. Und übrigens unterscheiden sich auch psychotherapeutische Schulen darin, welchen relativen Wert sie den beiden zumessen.

 

Wir sind der Meinung, dass sowohl die Einfühlung als auch das ‚technische‘ Verständnis von grundlegender Bedeutung sind, wenn es darum geht, Menschen in Veränderungsprozessen zu begleiten, die in komplexen Rolle-Person-Kontexten navigieren müssen. 

 

Ohne Empathie geht gar nichts.

So viel ist klar.

 

Man kann sich selbst nicht verstehen, wenn es nicht mindestens einen anderen Menschen gibt, der einen versteht. Man kann sich nicht selbst in sich einfühlen, wenn es nicht mindestens einen anderen Menschen gibt, der das kann.

 

Aber dafür braucht es gottseidank im Normalfall noch nicht einmal einen Coach – das  können auch Freunde oder selbst Fremde im Zugabteil leisten, denen man zufällig einige Stunden gegenüber sitzt.

 

Wenn wir als Coaches mit Menschen in Veränderungsprozessen arbeiten, ist es, wie wir schon wissen, gut, mit einem Teil unserer Aufmerksamkeit darauf zu achten, in was wir uns einfühlen können und in was nicht.

 

Beides kann eine Information beinhalten; über unseren Coachee und über uns selbst. Besonders die Grenzen unserer Einfühlung können Hinweise auf Prozessgrenzen unseres Coachees, aber auch unserer selbst beinhalten.

 

In der Präzision unserer Aufmerksamkeit für das Ausmaß und die Grenzen unserer Empathie liegt bereits ein prägnanter Unterschied gegenüber dem, was Freunde und Fremde in Zugabteilen bieten können – besonders, wenn wir diese Information im Hintergrund berücksichtigen, um uns für die nächste Intervention zu klären.

 

Diese Präzision ist natürlich eng verbunden mit der zweiten Variante von ‚Verstehen‘: der handwerklichen.

Verstehen im Coaching: Knowhow als Coach

Verstehen, wie es ‚funktioniert‘ – warum es also gerade ist wie es ist, und was bei vergleichbaren Ausgangsbedingungen zu halbwegs voraussagbaren Resultaten führt – beinhaltet für uns Coaches unter anderem folgendes Knowhow:

  • 5-Grenzen-Kurzzeit-Prozesse bei der anderen Person und in sich selbst in Echtzeit beobachten. Insbesondere wahrnehmen, wo der jeweilige und der gemeinsame Informations-Bedeutungsprozess an Grenzen stoßen.

  • Eine begründete Intuition darüber, welche Hoffnung es ist, die den Coachee in seinem oder ihren Langzeit-Prozess ruft oder lockt, und welche Kräfte es sind, die sie oder ihn halten und binden. Ein genaues Verständnis davon, wie sich Täter/Opfer-Dynamiken und Rolle/Person-Konflikte in diesem Prozess konstellieren, und an welcher Grenze ihrer Heldenreise die Person aktuell steht. 

  • Ein präzises Gewahrsein des systemischen Spielfeldes, auf dem der Coachee sich bewegt, sowie seiner oder ihrer wichtigen persönlichen und unpersönlichen Stakeholder und deren Interessen. In diesem Zusammenhang Hypothesen darüber, welcher Verratsdynamik der Coachee sich an der Grenze 5 seines oder ihres Langzeit-Prozesses gegenüber sehen könnte.

  • Aus dieser Prozessdiagnostik, die ja auf der fraktalen Verschränkung von Langzeit- und Kurzzeitprozess beruht, situativ die Intervention entwickeln,  die in einer gegebenen Situation geeignet scheint, Bewusstheit und Klarheit, Freiheit und Kreativität zu befördern.

  • Wissen, dass wir als Coaches unser handwerkliches Verstehen nicht im Perfekt formulieren dürfen. Niemals davon ausgehen, dass Einmal-Verstanden-Haben es erübrigt, sich dem Verstehen immer wieder neu zu stellen – im Unterschied zum Fliesenleger. Das hat einfach damit zu tun, das Menschen und die Beziehungsgefüge, in denen sie sich verbinden und trennen, noch weit komplizierter und unterschiedlicher sind als Fliesen, und letztlich wohl unergründlich.

Was zählt: Präzision und Timing

Menschliches und handwerkliches Verstehen greifen also im Coaching-Prozess ineinander; das eine ohne das andere reicht nicht, um den Unterschied zu machen, den wir als transformativer Coach machen können.

 

Das Entscheidende ist wahrscheinlich die Präzision, mit der wir die beiden Arten unseres Verstehens monitoren, und wie wir diese Genauigkeit wiederum situativ nutzen, um auf Inhalts- und/oder Beziehungsebene unsere nächste Intervention zu machen.

 

Mit anderen Worten: Wir glauben, dass der entscheidende Faktor für die Wirksamkeit unserer Interventionen im Timing liegt. Die ‚richtige‘ Frage zum richtigen Zeitpunkt bewirkt weit mehr als 400 fantasievolle Methoden, die in Abwesenheit von Präzision im Verstehen in die ungefähre Richtung des Coachees geworfen werden.

Dieser Text ist ein Auszug aus der Buchreihe "Transformatives Coaching und Mentoring".


Person und Rolle im transformativen Coaching

Rainer Molzahn

 

Leiter der Coaching-Ausbildung, Leadership-Coach und Autor

 

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