Grenze gegen die Veränderung der Identität

von Rainer Molzahn


Grenze gegen die Veränderung der Identität

Wenn das Leben uns mit Herausforderungen konfrontiert, die über die Bewältigung des Tagesgeschäftes hinausgehen, weil sie wesentliche Aspekte unserer Lebensführung berühren, wenn ihre Bedeutung Handlungen von uns erfordert, provoziert oder ermöglicht, die unser Selbst- und unser Rollenverständnis erschüttern – dann wird uns bewusst, dass wir aufgerufen sind, uns zu fragen:

 

„Wer bin ich? Wie bin ich geworden, wer ich bin? Und: wer will ich sein?“


Sich überhaupt bewusst darüber Gedanken zu machen, wer wir sind, ist nicht etwas, das wir oft oder gerne oder ohne triftigen Anlass tun. Das ist gut so, denn wenn wir das ständig täten, bekämen wir unser tägliches Leben nicht gebacken, und wenn unsere Antworten auf die Frage ‚wer bin ich‘ dann auch noch situativ variieren, kriegen wir eine ernsthafte psychiatrische Diagnose – mal abgesehen davon, dass wir zu einer Zumutung für unsere Umgebung werden.

 

Sich die Frage nach der eigenen Identität aber niemals zu stellen, ist fast genauso undenkbar, denn das Leben findet Wege, uns mit ihr zu konfrontieren, auch wenn – und manchmal gerade wenn – es uns eigentlich gar nicht in den Kram passt.

Zeit und Muße

Die Frage nach unserem Selbstverständnis wird vor allem dann akut und bedarf dann der vorsätzlichen Reflexion, wenn der Prozess der Bedeutungsgebung, den wir bisher durchschritten haben, uns zumindest mit der realistischen Aussicht konfrontiert, dass ein entsprechendes Handeln uns in Konflikt mit unserem Selbstbild, mit unserer Rolle und also auch mit denen bringt, von denen wir und die von uns abhängig sind. Immer, wenn wir unseren inneren Dialog wiederholt mit der Bilanz abbrechen: „das kann ich nicht machen“.

 

Wenn wir also in letzter Konsequenz und in unseren schlimmsten Befürchtungen mit unserem Tun einen Rausschmiss aus unserer Gemeinschaft riskieren. Deswegen will hier gut überlegt sein, bevor wir überstürzt handeln, was unser Handeln für uns, unser Leben und für die anderen mit sich bringt – und wie das unter Umständen auf uns zurückwirkt.

 

Eine solche Reflexion braucht ihre Zeit, ihre Muße und vielleicht auch ihren Ort. Alles Dinge, die uns das bereits vielzitierte Tagesgeschäft des Lebens nicht zur Verfügung stellt. Wir müssen sie uns wirklich aktiv nehmen. Deswegen neigen wir dazu, diese Arbeit mit uns selbst (denn Arbeit ist es) immer und immer wieder aufzuschieben, selbst wenn wir zutiefst spüren, dass wir sie brauchen: Feierabende gibt es nicht, Wochenenden sind zu kurz, Ferien braucht man, um sich von dem ganzen Zeug mal abzulenken. Und was soll ich denn meinem Mann sagen, warum ich alleine in Urlaub fahren will.

 

Deswegen nennen wir die Schwelle, die wir hier überschreiten müssen, eine Grenze:

um sie zu überwinden, muss man sich ein Herz fassen. Tief Luft holen und springen.

Ergebnisoffen, wie man so schön sagt.

 

Kein Wunder also, dass im Alltagsgeschäft zwar immer mal wieder Impulse, Gefühle, Gedanken und Fragen an die Tür unseres sehr beschäftigten Bewusstseins anklopfen, mit der Bitte, gehört, gedacht, gefühlt und beantwortet zu werden, dass aber unsere inneren Ordnungskräfte diese Impulse so lang es geht mit einem „Nicht Jetzt-Nicht Hier“ quittieren. ‚Weiter So‘ gewinnt, Rolle gewinnt, der Erwartungsdruck der anderen gewinnt, Sicherheit (oder was wir immer noch dafür halten) gewinnt. Zugehörigkeit gewinnt. All das sind sehr mächtige Kräfte, und das zu Recht.

Selbstkonzept und Identität

Wir benutzen den Begriff ‚Selbstkonzept‘ hier sehr bewusst Es geht ja nicht darum, dass wir unsere morphologische Konstitution, unser genetisches Programm oder, um es mit einem schönen altdeutschen Wort zu sagen, unsere Wesensart zur Disposition stellen würden. Diese Dinge können und sollten wir nicht verändern, denn sie machen in der Summe ja bereits unsere unverwechselbare Einzigartigkeit als Individuen aus.

 

Die Person, die da in den Spiegel schaut, um sich zu erkennen, bleibt die Person, die sie war, bevor sie in den Spiegel schaute. Aber darum geht es eben auch nicht. Es geht nicht darum, jemand anderes zu werden.

 

Wenn überhaupt, dann geht es darum, mehr die oder der zu werden, die oder der wir ohnehin sein sollten:

näher an unserer unverwechselbaren Einzigartigkeit, näher an unserem wahren Selbst. Und weniger die oder der, den andere aufgrund ihrer eigenen Bedürftigkeit und Interessenlage gerne hätten oder gewohnt sind zu haben – also den Weg zu gehen, den der unvergleichliche C. G. Jung mit Individuation bezeichnet hat. Das vorläufige Ergebnis dieses Weges ist nämlich überhaupt nicht, dass wir uns selbst sozusagen neu erfinden und unser bisheriges Wesen gegen eins austauschen, das wir selbst so frei waren, am Reißbrett zu entwerfen, wie bei einer ‚Schönheits‘-OP.

 

Was sich aber beim Blick in den Spiegel ändert, wenn wir uns denn dazu durchringen, ihn mit Mut und Gründlichkeit, mit Empathie und Neugier vorzunehmen, ist die Geschichte, die wir uns über uns selbst erzählen:

  • Wer bin ich?
  • Wie bin ich überhaupt so geworden wie ich bin?
  • Wie haben andere daran mitgewirkt, und wie ich selbst?
  • Was sind die Maßstäbe, nach denen ich mich und andere messe, beurteile und bewerte?
  • Woher kommen die, wer genau hat sie eigentlich gesetzt, und wer oder was genau wacht darüber, dass ich mich nach ihnen richte, in des Wortes doppelsinniger Bedeutung?
  • Wem und was fühle ich mich im Innersten verpflichtet, und warum?
  • Was ist mir wirklich wichtig in meinem Leben?
  • Wer und was erlaube ich mir selber zu sein?
  • Was ist der Unterschied, den ich aus innerstem Antrieb in der Welt und für die anderen machen möchte?

Wenn sich als epische Antwort auf diese Fragen unsere Geschichte ändert – und sei es auch nur in einzelnen Aspekten, Kapiteln, Absätzen oder Überschriften – dann ändert sich Entscheidendes: Es ändert sich nicht nur die Bedeutung dessen, womit das Leben uns konfrontiert, es ändert sich auch der innere Raum, in dem wir mit unseren inneren Stimmen Bedeutung verhandeln.

 

Es ändern sich die Maßstäbe, die wir zur Beurteilung von gut/schlecht, von wahr/unwahr, von passend/unpassend, von bedeutungsvoll/trivial, von ich/nicht ich heranziehen. Es ändert sich das jeweilige Gewicht der Stimmen, die in unserem inneren Parlament mitreden. Kurz, es ändert sich die Architektur unseres inneren öffentlichen Raumes.

 

Die Folgen sind: wir führen andere innere Dialoge, wir treffen andere Entscheidungen, mit etwas Glück und noch mehr Mut handeln wir auch anders, mit anderen Konsequenzen für andere und uns selbst. Die Person, die da in den Spiegel geschaut hat, ist eben nicht mehr die, die sie war, bevor sie das tat. Das ist Transformation.

Die Grenze gegen die Transformation schützt uns vor inneren Konflikten und damit einhergehenden schmerzhaften Erinnerungen und Gefühlen. Hier wirkt die Angst vor Fragmentierung, Chaos, Verwirrung und davor, das Leben oder unsere Arbeit nicht mehr bewältigen zu können. In transformatorischen Krisen kommen wir aber nicht darum herum, die Vorannahmen unseres Denkens und Handelns in Frage zu stellen und vor dem Hintergrund dessen, wozu wir aufgerufen sind, frühere Entscheidungen neu zu bewerten. Was uns dabei helfen kann, ist Vertrauen in uns und die Menschen, die mit uns diesen Weg gehen.

zum Weiterlesen: Grenze gegen das Handeln

Dieser Text ist ein Auszug aus der Buchreihe "Transformatives Coaching und Mentoring".


Person und Rolle im transformativen Coaching

Rainer Molzahn

 

Leiter der Coaching-Ausbildung, Leadership-Coach und Autor

 

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