Grenze gegen das Handeln

von Rainer Molzahn


Grenze gegen das Handeln

Ist der Lernprozess bis zur Transformation des Identitätskonzepts durchlaufen, ist alles gut. Könnte man denken. Die Person oder das System hat sich psychologisch erneuert, und das ist die Stelle, an der wir in Filmen das Happy End erwarten.

 

Im wirklichen Leben aber stehen wir vor der letzten und nicht weniger anspruchsvollen Grenze: der Grenze dagegen, jetzt auch tatsächlich anders zu handeln – in die Welt und Gemeinschaft hinein, von der wir ein Teil sind, in Beziehung zu denen, von denen wir und die von uns abhängig sind.


Prinzipiell ist es ja ein Grund zum Feiern, dass wir schon bis hierher gelangt sind. Wir sind den Weg der Informations-verarbeitung und Bedeutungskonstruktion bis zu diesem Punkt gegangen, an dem wir bereit sind, auf die Herausforderung, vor die wir uns gestellt sehen, nicht einfach zu reagieren, sondern schöpferisch zu antworten.

 

In diesem Prozess haben sich unsere Benennung und unsere Geschichte davon, womit wir konfrontiert sind, bereits dramatisch verändert. ‚Schöpferisch‘ wird es jetzt deswegen, weil es für diese Antwort keine Vorläufer, keine Rezepte und keine Vorschriften mehr gibt. Die müssen wir jetzt selbst erfinden. Wir haben den Weg von Veränderung = :-(  zu Veränderung = :-)  schon erfolgreich beschritten.

 

Denn an diesem Punkt geht es überhaupt nicht mehr darum, Veränderung zu erleiden, sondern Veränderung zu tun.

Das ist der transformative Unterschied. Wohlsein! 

Von Außen nach Innen und wieder nach Außen

Der gesamte Prozess der Veränderung, so wie wir ihn bis hierher dargestellt haben, findet von Grenze zu Grenze zunehmend in unserer Privat- und Intimsphäre statt: worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten (Grenze 1), dafür gibt es vielleicht noch unausgewählte Zeugen, oder zumindest Indizien, die auch anderen Menschen sensorisch zugänglich sind.

 

Der Kreis von Leuten, mit dem wir austauschen, was an unseren Wahrnehmungsdaten Unterschiede sind, die einen Unterschied machen, was wir also im engeren Sinne als Realität definieren (Grenze 2), ist schon viel kleiner. Er wird sich in der Regel aus Leuten zusammensetzen, von denen wir und die von uns zumindest mittelbar abhängig sind, und die ungefähr denselben hierarchischen oder sozialen Rang haben wie wir selber.

 

Noch kleiner wird die Gruppe, noch privater wird es, sobald es darum geht, zu überlegen, welche Bedeutung das, womit wir konfrontiert sind, für unser Handeln in unserer Rolle hat (Grenze 3). Einiges teilen wir hier vielleicht noch mit wenigen, sehr ausgewählten Vertrauten, aber das Meiste und Wichtigste findet in unserem inneren Parlament statt, weil ab hier die Spannung zwischen Person und Rolle/n bewusst ins Spiel kommt.

 

Ganz privat, geradezu intim wird es dann, wenn sich diese Spannung noch weiter erhöht (Grenze 4), wenn wir nicht mehr umhin können, als uns mit unserer Identität zu beschäftigen, mit diesem klitzekleinen Dreh- und Angelpunkt unserer Maßstäbe, unserer Beziehungsaufnahmen und unserer Handlungen. Das tun wir in aller Regel nicht im Büro, nicht im Kaffeehaus, und auch nicht beim Fernsehen mit der Familie, sondern allein. Vielleicht in der Natur, vielleicht mit unserem Tagebuch, vielleicht manchmal mit unserem transformativen Coach – aber sicher mit niemand, der oder die ein eigenes Interesse am Ausgang unserer inneren Arbeit hätte.

 

Erst wenn diese Arbeit getan ist, produzieren wir als ihr Ergebnis für die Menschen in unserer Umgebung in der Art und Weise, wie wir jetzt handeln, andere sinnlich wahrnehmbare Daten als die, die sie gewohnt sind, von uns zu empfangen. Erst jetzt zeigt sich an unserem beobachtbaren Verhalten für die anderen ein Unterschied, der das Zeug dazu hat, einen Unterschied zu machen.

 

Solange wir nicht anders handeln als bisher, ist es denen eigentlich ziemlich wurscht, was wir in unserem zunehmend verdeckten und privaten Signalverarbeitungsprozess bis hierher alles so erlebt und uns ausgedacht haben. Keine Bedeutung.

 

Wenn wir uns aber tatsächlich dabei beobachten, dass wir uns sehr ernsthaft fragen, wie die anderen wohl reagieren werden, wenn wir jetzt beginnen, so zu handeln, wie es uns mittlerweile innerlich stimmig erscheint, in Einklang mit unseren Neigungen, Werten und Fähigkeiten: dann wissen wir, dass wir uns akut an der Grenze 5 unseres transformativen Entwicklungsprozesses befinden.

 

Jetzt kommt es darauf an. Bis hierher war es Privatsache; jetzt wird es öffentlich. Wenn die Schlüsse, zu denen wir gelangt sind, in einem anderen Verständnis unserer Rolle münden, betrifft das alle anderen in deren Rollen. Wenn wir unsere Rolle abgeben oder ganz neu definieren, sowieso: das gesamte System gerät durcheinander und ist als Ganzes herausgefordert.

 

Ich muss also im milderen Fall damit rechnen, als personifizierte Störung wahrgenommen und vielleicht abgetan zu werden. Ich muss auf jeden Fall mit Kritik rechnen, eventuell auch damit, lächerlich gemacht und verhöhnt, im schlimmeren Fall geächtet und als Agent der Fremden diffamiert, im schlimmsten Fall und in unseren düstersten Befürchtungen entlassen, gekündigt, rausgeschmissen zu werden. Höchststrafe. Deswegen ist Grenze 5 von allen die anspruchsvollste, denn hier beginnen wir wirklich, Tatsachen zu schaffen, die nicht mehr ungeschehen zu machen sind. All unser Mut ist gefordert

Grenze 5 ist aus drei Gründen anspruchsvoll:

  1. Unsere „Stakeholder“ sind möglicherweise, wahrscheinlich üblicherweise, überhaupt nicht interessiert daran, dass wir uns auf einmal anders verhalten. Schließlich war man daran gewöhnt, dass wir so handeln wie immer. Veränderung konfrontiert unsere Leute mit Irritation, Verunsicherung, Durcheinander und fordert sie heraus, sich ebenfalls zu verändern. Dagegen werden sie sich wehren, und wir machen uns eventuell sehr unbeliebt.
  2. Wir werden kritisiert werden. Auch wenn wir den kulturellen Kritiker als innere Instanz transformiert haben, ist er im Außen noch eine sehr mächtige Figur, die durch viele Mitglieder sprechen kann. Wir werden uns eventuell sehr alleine fühlen.
  3. Wenn wir uns innerlich aus der Gemeinschaftstrance gelöst haben, wenn der stille Konsens uns nicht mehr heilig ist und wenn wir ihn in Folge verstören, benennen oder missachten, werden wir von den anderen vielleicht als Repräsentant des Fremden ausgemacht. Damit riskieren wir eventuell unsere Zugehörigkeit. Grenze 5 ist also deswegen so schwierig, weil wir, wenn wir anders handeln, die anderen an die erste Grenze bringen, an die gegen die Wahrnehmung. Die „Bestie“ des öffentlichen Raums unserer Gruppe wird sich wehren, und wenn wir uns ungeliebt, isoliert und in unserer Zugehörigkeit bedroht fühlen, sind das starke Anzeichen dafür, dass die Widerstandskräfte, welche die Grenze gegen die Wahrnehmung bei der Gruppe bewachen, tätig sind.

Das alles ist ziemlich atemberaubend. Und keine unserer Befürchtungen an dieser Stelle ist vollkommen unangebracht, auch unsere spektakulärste nicht. Woher sollen wir sicher sein, dass die anderen uns noch ertragen möchten, wenn wir mehr wir selbst sind? Wenn wir also zum Opfer werden?

 

Und, fast noch schlimmer: was ist, wenn wir durch unser Handeln so destruktiv wirken, dass die ganze Gemeinschaft auffliegt - implodiert, explodiert, was auch immer? Wenn wir also zum Täter werden und uns schuldig machen?

 

Jede Gemeinschaft, ob mit oder ohne Organigramm, setzt voraus, dass wir nicht einfach ganz wir selbst sind. Dass wir also einen Teil von uns abspalten, um der Gemeinschaft willen, und um unserer Zugehörigkeit. Diese Erfahrung machen wir schon als Kind in unserer Familie, und natürlich prägt diese Erfahrung unseren persönlichen Antwortstil, wenn immer es in unserem weiteren Leben darum geht, zwischen unseren Bedürfnissen nach Zugehörigkeit und nach Selbstverwirklichung zu verhandeln.

Die Gefahr der Spaltung

Wenn wir also, nachdem wir an Grenze 4 erfolgreich daran gearbeitet haben, in unser Selbstbild zu integrieren, was wir bis dahin unserer Zugehörigkeit und unserer in sie eingebetteten Rolle geopfert und abgespalten hatten, werden wir an Grenze 5 mit dieser schwierigen Wahl konfrontiert:

 

Wenn wir, um nicht zum Opfer und nicht zum Täter zu werden, nach außen so weiter handeln wie im­mer, wenn wir unserer Selbstverwirklichung nur privatis­sime in unserem Käm­merlein nachgehen, dann spalten wir uns im Innern erneut – nur diesmal be­wusst und sozusagen mit Berechnung. Damit verlängern wir nicht nur unsere Opfergeschichte, wir werden auch zu Tätern an uns selbst. Und vielleicht auch an anderen, die wir zu Komplizen unserer eigenen Spaltung und Erstarrung machen.

 

Wenn wir uns dazu entschließen, mit unserer Wahrheit rauszukommen und unsere persönlichen und/oder unpersönlichen Beziehungspartner damit zu konfrontieren, riskieren wir die Abspaltung im Außen: die Aufkündigung unserer Zugehörigkeit durch die anderen oder auch uns selbst, die fristlose Beendigung von Beziehungen, und im allerschlimmsten Fall (das ist die ‚nukleare‘ Variante) die komplette Desintegration des gesamten sozialen Gefüges, in dem wir bis­lang gewohnt waren, unser Leben zu leben.

Die Grenze gegen die Veränderung des Handelns schützt uns vor dem Verlust unserer Zugehörigkeit. An ihr sind wir gefordert, uns ganz klar zu werden, wie wir jetzt nach außen wirken wollen.

Dieser Text ist ein Auszug aus der Buchreihe "Transformatives Coaching und Mentoring".


Person und Rolle im transformativen Coaching

Rainer Molzahn

 

Leiter der Coaching-Ausbildung, Leadership-Coach und Autor

 

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